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Wenn sich zwei streiten…

Wenn sich zwei streiten… – Die diplomatische Eiszeit der Visegrád-Staaten und die tschechische EU-Ratspräsidentschaft

Visegrád existiere höchstwahrscheinlich schon nicht mehr, kommentierte eine polnische Zeitung das abgesagte Verteidigungsministertreffen der Visegrád-Staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn (V4) Ende März. Prag und Warschau hatten mit Verweis auf die Haltung von Budapest gegenüber Moskau ihre Teilnahme mit außergewöhnlich scharfen Worten abgesagt. Es ist der vorläufige Höhepunkt eines jahrelangen diplomatischen Auseinanderdriftens der vier mitteleuropäischen Länder.

Während V4 insbesondere seit 2015 noch zur Durchsetzung von politischen Partikularinteressen auf europäischer Ebene diente, hat sich die innenpolitische Gemengelage seither geändert. Mit den Regierungswechseln in der Slowakei im Jahre 2020 und in Tschechien im vergangenen Herbst haben sich die beiden Ex-Bruderstaaten inzwischen zurück auf einen liberaleren anti-populistischen und pro-EU/NATO Kurs begeben. Auch der enge V4-Partner Slowenien hat unlängst seinen populistischen Premier abgewählt. Zeitgleich bauen die polnische und ungarische Regierung weiter ihr autoritäres Staatsverständnis aus, was sich auch in den laufenden EU-Vertragsverletzungsverfahren gegen die dortigen Medien- und Justizreformen widerspiegelt. Während Warschau die Aussicht auf ausbleibende Zahlungen aus Brüssel offensichtlich missfällt, hat Ungarns Premier in seiner Siegesrede nach den kürzlichen Parlamentswahlen noch einmal deutlich gegen die EU-Bürokratie nachgelegt. Gleichzeitig benötigen beide Seiten ihr jeweiliges Veto, um die EU-Rechtsstaatsverfahren weiterhin bestmöglich ausbremsen zu können.

In der zweiten Jahreshälfte des Jahres übernimmt Tschechien den Vorsitz im Rat der Europäischen Union. Die programmatischen Vorbereitungen dazu laufen – wenn auch behindert durch unzureichendes Budget und Personal. Gleichzeitig übernimmt im Sommer Bratislava die V4-Präsidentschaft. Prag muss auf die Eiszeit in der Visegrád-Gruppe mit Pragmatismus und Realismus reagieren: Die derzeitige europäische Politik bietet zwar einerseits viele Anknüpfungspunkte für Neuerungen, jedoch ist es auch schwierig, bei vielen gleichzeitig laufenden Krisen ein einheitliches Motto für die Agenda der EU im kommenden halben Jahr zu finden. Zudem nehmen auch die meisten von der Kommission für ihre Legislaturperiode angekündigten Legislativverfahren konkrete Formen an oder stehen vor dem Abschluss.

Vor allem die Konflikte mit Polen scheinen vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Lage vorerst begraben, wie der Besuch des tschechischen Premiers in Warschau sowie die gemeinsame Reise beider Ministerpräsidenten nach Kiew gezeigt haben. Doch auch in Budapest fand kürzlich ein finanzpolitisches Vorbereitungstreffen statt. Gleichzeitig muss Tschechien auch außerhalb von V4 neue Partner in Europa gewinnen, um die programmatische Breite der EU-Ratspräsidentschaft abdecken zu können. Insbesondere bei gesellschaftlichen Themen wird die neue liberal-konservative Regierung in Prag eher im Westen und Norden Verbündete gewinnen. Dies trifft auch auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik zu, wo sich die tschechische Position innerhalb der EU oftmals am besten mit den skandinavischen Ländern oder Irland überschneidet. Hier bilden sich bereits erste informelle Verbindungen heraus, welche während der Ratspräsidentschaft noch offiziell verstärkt werden könnten. Zuletzt suchte Premier Fiala zudem den politischen Schulterschluss mit Berlin. Auch in Hinblick auf die EU-Erweiterungspolitik wird Prag eine deutlichere eigene Linie finden müssen, um im Sinne Brüssels der dortigen wachsenden Autokratisierung und Desinformation wirksam begegnen zu können.

Eine entschiedene und wirkungsvolle tschechische EU-Ratspräsidentschaft könnte somit nicht nur der europäischen Diplomatie wieder Schwung verschaffen, sondern auch Impulse für eine eigenständige mitteleuropäische Regionalpolitik jenseits der Grenzen von V4 und EU geben.


Felix Breiteneicher ist Referent bei der Ersten Lesung. Er studierte Diplomatische Studien in Prag und arbeitete für das Tschechische Institut für Außenbeziehungen. Derzeit beschäftigt er sich mit den Vorbereitungen für die anstehende tschechische EU-Ratspräsidentschaft.